Wieviel Pfeile muss man eigentlich im Kopf haben, um auf die Idee zu kommen, 95 Mal ne häßliche Abraumhalde hinaufzufahren, um 10.000 Höhenmeter zu erreichen??? Ehrlich gesagt ich weiß es nicht, aber gemacht habe ich den Irrsinn trotzdem.
Bevor man mich aber jetzt nach Gangelt oder ins Alexianer Krankenhaus in Neuss zu den Napoleons und Elvis Presleys wegsperrt, hier ein Erklärungsversuch;)
Anno 2010 absolvierte ich am Nürburgring meine zweite und erfolgreichste 24-Stunden-Rad-am-Ring-Solo-Tour. Nach ganzen 16 Runden über die naja „leicht hügelige“ Strecke standen 8840 Höhenmeter zu Buche. Damals beschlich mich bereits der abstruse Gedanke, dass da noch mehr geht. 10.000 Höhenmeter sollten doch locker zu schaffen sein. Die kühne Schnapsidee im Zieleinlauf-Delirium hätte ich damals am besten mal in die Tonne gehauen. 10 Jahre hat der Kokolores gedauert, bis ich endlich diese Marke knacken konnte. Hätte ich das vorher gewußt………….

Da soll es also jetzt 95 Mal rauf gehen?!?Mein „Basislager“ am Neuenhausener Friedhof

Nun ja, der Gedanke war da. Dann musste man sich mit ihm auch befassen. Bis einschließlich 2015 hatte ich jedoch nicht ernsthaft versucht, die Mondmarke anzugehen. Vermutlich die letzten Reste von Vernunft in mir oder was auch immer! Bis dahin war alles mehr oder weniger Vorbereitung auf den Ernstfall, wenn man die brettharten Rennen, wie z.B. Endura-Alpentraum (6200hm), La Marmotte Alps (5100hm) und Schwarzwald Super (6500hm) so nennen will;) Dann ging aber alles Schlag auf Schlag. Beispiele?

2016 4*Mont Ventoux an einem Tag (6100hm / ein schmerzender Bänderriss vom Polizeieinsatztraining sechs Wochen zuvor verhinderte mehr. Toll! Aber Hauptsache ich kann Hans Wurst mit nem Armdrehhebel zu Boden bringen)

2017 Tour du Mont Blanc (8100hm / 330km juckelte ich mit nem defekten Rad über 7 Alpenpässe, da hatte ich im Ziel den Kaffee auf)

2018 Pässetour bei Andermatt (6300hm / Magen-Darm während der Tour, Details lass ich aus)

2019 Le Tour de Stations (7400hm / 6 Stunden Regen mit Gewitter brachten nicht nur mich an meine Grenzen; mein Höhenmetermesser hatte offenbar Fieber und zeigte kilometerlang bei 9% Steigung Gefälle an. Somit konnte ich mir die Höhenmeterwerte der Tour getrost in die Haare schmieren)

2020 Pässetour bei Andermatt (5700hm / der zweite Versuch rund um Andermatt war eigentlich schon Geschichte, nachdem ich 5 Tage vorher ne Thrombose in der rechten Wade diagnostiziert bekam; Klasse! Versucht hatte ich es nach Rücksprache mit dem Arzt trotzdem. Wenngleich die Abfahrten im Schneckentempo erfolgten, da ich alles durfte außer stürzen.)

Wer jetzt mitgezählt hat kommt auf 5 Versuche, wo irgendwas, irgendwann, irgendwo, irgendwie nicht funktioniert oder nicht gepasst hat. Jedes mal 8 Stunden euphorisch hin zur Kontinentalfalte namens Alpen und gefrustet wieder zurück. Irgendwann geht das einem gehörig auf den Sack.


Es musste also eine Änderung her. Und wie heißt es doch so schön: Kommt der Prophet nicht zum Berg muss eben der Berg zum Propheten kommen! Der Plan eines Everesting in heimischen Gefilden reifte in mir. „Ever…was?“ Der Radsporttrend für total Bekloppte ist schnell erklärt: man sucht sich irgend nen dahergelaufenen Hügel aus, egal ob schneebedeckter 4000er oder Müllhalde und radelt diesen so lange hinauf, bis man 8848 Höhenmeter erreicht hat. Das ist die Gipfelhöhe des namensgebenden Mount Everest. Da der ganze Irrsinn eine imaginäre Gipfelbesteigung mit dem Rad darstellen soll, darf man auch nicht die Seite wechseln, sondern muss pausenlos die selbe schnöde Rampe in Angriff nehmen. Warum man sowas mach? Solche Fragen stellt man sich besser nicht dabei;)
Nur Berg und heimatnah ist am bulldozergeplätteten Niederrhein so ne Sache. Hier ist ja jede Straße mit der Wasserwage angelegt und schon ein 1km Anstieg mit 4% das reinste Stilfser Joch. Meine Wahl fiel daher wenig verwunderlich auf den Giganten unserer Region, den K2 des Rhein-Kreises Neuss, die Vollrather Höhe!!! Die potthäßliche Abraumhalde aus Grevenbroich, eingerahmt von noch häßlicheren Kraftwerkblöcken aus Frimmersdorf und Neurath sollte es also werden. Hätte mir vor 2-3 Jahren einer gesagt, dass ich nach Mount Ventoux, Stelvio, L’Alp d’Huez usw. meine 10.000-Höhenmeter an diesem Ungetüm in Angriff nehme, ich hätte damals Tränen gelacht.

Am Samstag den 25. Juli 2020 um 06:00 Uhr sollte die ganze Sache nun steigen. Ausgewählt hatte ich die Nordrampe der Vollrather Höhe bei Neuenhausen. 2,2 km Strecke bergauf mit bahnbrechenden 105 Höhenmeter bei durchschnittlich 6% Steigung! Ein echter „Brocken“, der jedem Pässefahrer einen Schauer über den Rücken jagt;))) Darüber hinaus im oberen Bereich noch mit einem Asphalt versehen, der mit seinen Wurzelaufbrüchen eher an Sets von „Endzeitfilmen“ erinnert. Aber diese Seite hatte zwei simple Vorteile gegenüber der bekannteren Südseite bei Allrath: Sie ist zum einen 10 Meter höher und zum anderen mit einer Serpentine und freiem Feld am unteren Ende etwas weniger totlangweilig, als die mit nem Lineal gezogene und nur durch Wald führende Allrather Auffahrt.
Auch hier blieb die Alpen-Glückssträhne mir treu. Will heißen, dass wieder irgendwas, irgendwann, irgendwie schief lief. Zum Glück war es nur die Wettervorhersage für die Nacht von Samstag auf Sonntag. Nach wochenlangen Vorhersagen von Rennrad-Bilderbuchwetter für das besagte Wochenende, standen jetzt Regengüsse auf dem Programm. Aber sowas hält nen angehenden Everester nicht mehr auf. Das Event um 12 Stunden vorgezogen, startete ich nun am Freitag Nachmittag den 24.07.2020 nach Feierabend. Wer am Vormittag 7 Stunden Gangster in Dormagen jagen kann, der hat auch noch Power für ein paar läppische Hügelrunden am Nachmittag. Um 14 Uhr den letzten Kerl eingebuchtet, ging es um 15 Uhr auf die Strecke.
Bis zur Nacht, welche ja bekanntermaßen um 22 Uhr eingeläutet wird, wollte ich bereits 25 Auffahrten eingetütet haben. Mit meinem bis unter das Dach mit Riegeln, Bananen, Wasser und irgendwelchen ekelerregenden Kohlenhydratedrinks vollgepackten PKW direkt an der Strecke geparkt, erwies sich dieser kühne Plan überraschenderweise sogar als durchführbar. Zumal um 19 Uhr ein Freund aus Gierath, der Uli, hinzustieß und mich in ein 6 mal die Halde rauf langes Gespräch verwickelte.
Die Nacht entwickelte sich zur echten Kraftprobe. Und damit waren ausnahmsweise mal nicht die Beine gemeint, die brav ihren Dienst verrichteten, sondern die Birne. Was machte man mitten in der Nacht auf ner gottverlassenen Rampe, dunkel wie ein Bärenhintern mit praktisch gen Null laufenden optischen wie akkustischen Reizen? Eigentlich nix! Und viel wichtiger, warum macht man sowas? Die aufgrund der „malerischen“ Strecke früh einsetzende mentale Sinnkrise bekämpfte ich mit lauter Technomusik und einem Hörbuch.
Die ersten Sonnenstrahlen um 05:30 Uhr erweckten mich aus meinem nächtlichen Delirium auf dem Drahtesel. War ich wirklich 23 Mal in der Nacht den blöden Hügel raufgeeiert? Ein kurzer Blick auf den Tacho bestätigte diese Vermutung. Die Höhenmeteranzeige stand bei 5040. Das ganze mal Pi zum Quadrat ergab nach Adam Riese 48 Auffahrten. Ehrlich gesagt hatte ich von der ganzen Nacht eigentlich nur in Erinnerung, dass mein Crossrad, auf welches ich des bessern Pannenschutzes wegen in der Nacht gewechselt hatte, genau das tat, was es eigentlich nicht tun sollte. Es verlor Luft! Und nicht nur das. Der obligatorische Platte ereilte mich am denkbar tollsten Ort, nämlich am Fuße des Bergriesen. Nach der gewonnen 1 km langen, nächtlichen Bergaufwanderung auf Klickschuhen war ich zumindest wieder kurzfristig wach.

Auf der Strecke am Samstag Vormittag (Auffahrten 52 – 69)

Nach dem Sonnenaufgang brannte ich nochmal flott 4 Anstiege in den Asphalt bevor mich bei Auffahrt 52 der nächste Freund mit seiner Anwesenheit beglückte. „Postbote“ Chris oder besser „Dr. Postbote“ ließ es sich sehr zu meiner Freude nicht nehmen, vom Bonner Post Tower direkt zur Perle der deutschen Kraftwerksstädte, nach Grevenbroich zu reisen. Chris zog das Tempo leicht, nur ganz leicht an. Getreu dem Motto, wer es 50 mal in durchschnittlich 11 Minuten da rauf schafft, der schafft es auch in 8:45 Minuten. Fortan qualmten meine Reifen und Beine! Aber dank interessanter Gespräche und einem Besuch eines weiteren Freundes „Rudi“ mit seinem Hund vergingen die 16 Bergzeitfahrten mit Chris im wahrsten Sinne des Wortes wie im Fluge.
Ganz besonders begeistert war ich vom Besuch meiner Familie an der Strecke. Worte eines 4jährigen Mädchens „Verrückter Papa, vorwärts!“ würden dem ein oder anderen eher zu denken geben und seinen geistigen Zustand ausloten lassen. Da es bei mir aber nix mehr auszuloten gibt und ich weiß, dass ich nen Sockenschuss habe, trieben mich diese Anfeuerungen nur noch schneller den Berg rauf. Danke Lia, Danke Katja und Danke Chris!!!
Nach der Eilpostrunde mit Chris, welcher um 13:00 Uhr die Heimreise antrat, hatte ich bereits 68 Rampen oder knapp 7200 Höhenmeter hinter mir. Leider hatte ich aber auch mittlerweile meine Fitness, meinen Elan, meine Kohlenhydrate und alles was einen sonst so antreibt hinter mir. Der dritte Freund Carsten meldete sich zum Glück direkt im Anschluss bei Runde 70 an und begleitete mich durch 5 Hungerastrunden. Alles was seine und meine Rückentaschen hergaben wurde von mir kurzerhand vereinnahmt und in Bewegungsenergie umgewandelt. Wobei die Bewegungsgeschwindigkeit im freien Fall zu sein schien. Zumindest konnte ich bis zur Verabschiedung von Carsten nach der 74en Auffahrt noch annähernd sowas halten, was wie ein normales Fahrradfahrtempo aussah. Da letzten 10 Anstiege bis zum Everesting und erst recht die dann noch folgenden 11 Anstiege bis zu 10.000er Marke wurden zum reinsten Schneckenrennen.
Bei einer dringend notwendigen Pause auf dem Fahrersitz meines „Basislagers“ genehmigte ich mir nach Carstens Verabschiedung ein SNICKERS und ein kurzes Powernapping. Doof ist nur, wenn man das gleichzeitig macht und man mit Riegel in Hand und Mund nach vorne aufs Lenkrad kippt;) Sitzen ging also gar nicht mehr. Da ich auch stehend bereits K.O. war, schwang ich mich schnell zurück auf den Sattel. Nur darauf schien ich ja offensichtlich nicht einzuschlafen. Es waren noch läppische 10 Runden bis zum Everesting. Das wird doch irgendwie noch zu schaffen sein. Während der subjektiv immer länger zu werdenden Auffahrten regelte ich noch schnell telefonisch meine Heimfahrt für den Abend. Selbst wenn ich mir jetzt literweise nur noch Red Bull reingekippt hätte, wäre ich alleine mit meinem rumänischen Luxusgefährt Marke DACIA nicht weit gekommen. Ich hatte mittlerweile ne Fahrtüchtigkeit wie nach 2 Flaschen Wodka.
Um 17:04 Uhr war er dann endlich erreicht, der imaginäre Gipfel des Mount Everest. Mein Navi zeigte nach 84 Auffahrten, 360km und 22:30h Fahrtzeit die magischen 8848 Höhenmeter an und ich wurde zum Sir Edmund Hillary eines bewaldeten Schotterhügels namens „Vollrather Höhe“ :-) Was für ein Gefühl………..glaube ich zumindest, denn in der Phase fühlte ich irgendwie gar nicht mehr und war nur noch wie ein Roboter unterwegs.
Obwohl alle Körperteile nach „Stopp, Ende, Aus!“ schrien, endschied mein Kleinhirn für sich irgendwie, einfach weiter zu radeln. Ein Pedaltritt nach dem anderen, immer weiter bis zur 10.000! Rationalität war hier schon lange verloren gegangen. Treten, treten, treten……… Noch 1150 Höhenmeter, 48 Kilometer oder psychisch besser zu verkraften nur noch 11mal den Mistberg hier rauf. Noch 9 mal, noch 5 mal noch dreimal…… Um 20:15 Uhr ließ ich auf der usseligen, verdammten Rampe einen Urschrei von mir, der Hasen, Rotwild, Spaziergänger und was sonst noch in der Umgebung Sauerstoff in Kohlendioxid verwandelt, aufschrecken ließ. Meine persönliche Mondlandung war perfekt!!!!!!!!!!!!!!!!! Yeeeeeeeeeeeeaaaaaaaaaahhhhhhhh!!!!!!!

Tacho-Endstand nach über 25 Stunden, nix geht mehr

10.039 Höhenmeter zeigte mein schweißgetränkter Tacho nach der 95. Auffahrt an. Die hammerharte Everesting-10K-Challenge war geschafft, Shaka!!!!! Nach 25:39 Stunden Nettofahrtzeit (29:13 h Brutto) und 409 Kilometer Strecke bin endlich im Club der 10.000er angekommen. Und in der Everesting-Hall-of-Fame gehört dieser blöde Berg jetzt ganz offiziell auf ewig mir Das macht mich zwar jetzt nicht zu nem Christoph Strasser (Reinhold Messner des Extremradsports), aber stolz bin ich trotzdem.
Ein Dank noch an alle, die mir geholfen haben. Ob persönlich am Berg oder mental durch aufmunternde, anfeuernde Nachrichten/Chats.
Und nun? Nach der langen und nun endlich erfolgreichen Jagd ins Leistungsloch? Ich glaube nicht. Ziele gibt’s für uns Bekloppte genug. Nächstes Jahr nehme ich erst mal die 1000-km-Marke ins Visier. Natürlich nonstopp! Und wer weiss………..2023 findet das nächste PBP statt (Paris-Brest-Paris);))))))))))) Mal schauen……….

Bis dahin…….Kette rechts & Bleib dran
Dirk Gütte

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell für den Betrieb der Seite, während andere uns helfen, diese Website und die Nutzererfahrung zu verbessern (Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.