Getreu dem Motto „Das härteste ist gerade hart genug“ war ich Ende 2016 wieder mal auf der Suche nach einem ausdauertechnischen Prüfstein. In meinem Lieblings-Zweiradblatt ROADBIKE entdeckte ich dann passenderweise eine kleine, unscheinbare Ankündigung/Werbung für ein Event, dass mir einerseits den Atem stocken ließ und andererseits ein Lächeln auf mein Gesicht zauberte. Zweiradmasochismus nennt man das glaube ich. Irgendwo auf Seite 67 ¾ zwischen Inseraten für diversen Fahrradramsch wurde die siebte Ausgabe der TOUR DU MONT BLANC im kommenden Juli 2017 angekündigt. 330 Kilometer Strecke über 7 Alpenpässe, von denen der große und kleine Sankt-Bernhard-Pass die bekanntesten waren, sollten die Radonneure auf sage und schreibe über 8000 Höhenmeter führen!!! Wahnsinn :-)
Meine Online-Anmeldung zu diesem Ultra-Radmarathon für bekloppte Bergliebhaber war 5 Minuten später Geschichte. Jetzt hieß es trainieren, trainieren, trainieren……zumindest in der Theorie. Lia, unsere Tochter Baujahr Sommer 2016, hatte irgendwie was dagegen, dass Papa ständig auf dem Rad sitzt;) Meine Gesundheit aber passenderweis auch. 6 Monate, gefühlte 5 Grippen und Infektionen inklusive Bronchitis und nem Aufenthalt in einer Klinik in Lujbljana später war mein Trainingsstand dezent durch die Blume gesagt: Schei…..!!!
Bevor es am 13.07.2017 mit dem Auto gen französische Alpen gehen sollte, gönnte ich mir noch ein gesundheitliches Bonbönchen. Beim Rennradtraining des ERC auf regennasserfahrbahn war ich es irgendwann leid, ständig die kurvigen und nervigen Kreisverkehre zu umfahren. Am Kreisverkehr in Tenholt nahm ich einfach den kürzesten Weg, nämlich den auf dem Hosenboden über den Asphalt einfach quer drüber. Meine linke Hüfte und das linke Knie entledigen sich in diesem Zusammenhang schnell jeglicher auch wirklich eng sitzender Haut und offenbarten eine schöne Roastbeef-Landschaft. Damit nicht genug gesellte sich der dazu passende beulenartige Bluterguß am nächsten Tag hinzu.
Wenig trainiert und praktisch lädiert wie ein Boxer nach seinem Kampf ging es am Samstag den 15. Juli 2017 im Skiort Hauteluce-Les Saisies auf 1657 Metern Höhe an den Start. Das zu einer Uhrzeit, wo alle Hähne noch im Hühnerstall pennen, nämlich im stockdüsteren um 5 Uhr Morgens. Neben mir hatten sich ganze 542 weitere psychiatriereife Radler bei gemütlichen 7 Grad dort getroffen. Nach dem Startschuß ging der Wahnsinn los.
Die ersten 40 Kilometer gestalteten sich angenehm, gingen sie doch gut 40 Kilometer und über 1000 Höhenmeter nur abwärts. Wäre da nicht mein drittes Handicap zu Tage gekommen: ein technischer Defekt am Hinterrad! Da die Reifen abgefahren waren hatte ich vor dem Rennen @ Home samt Schläuche neue aufgezogen. Dabei war mir offensichtlich bei der Probefahrt ein leichter Höhenschlag im Rad nicht aufgefallen. Bei Bergauffahrten kein Problem, entwickelten sich die Abfahrten dadurch zu imaginären Kopfsteinpflasterritten. Maximal 55-60 km/h statt 80 waren drin, andernfalls hätte ich Kopf und Kragen riskiert. Dank meiner puristischen Werkzeugausrüstung, nämlich gar keiner, bestand auch nicht die Möglichkeit einer schnellen Reparatur. Also ritt ich eben bergab das ein oder andere mal nach Laramie statt mit den anderen Geschwindigkeitsrekorde zu knacken.
Die ersten beiden Pässe, der Col du Montets (1419 m) und Col de la Forclaz (1526 m), gestalteten sich noch recht einfach. Es war Morgens und somit kühl und je etwa 400 Höhenmeter sorgten noch nicht für Schweißperlen auf der Stirn. Zudem hatte man fast ständig den gänzlich wolkenfreien Schnee-und Eisriesen MONT BLANC mit seinen 4810 Metern Höhe im Blick. Diese Traumaussicht lenkte ab.
Doch schon der dritte Pass nunmehr in der Schweiz, die Auffahrt nach Champex-Lac (1498 m), hatte es in sich. 900 Höhenmeter auf 12 steilen Serpentinenkilometern galt es zu erklimmen. Was mich betraf, hatte ich da den ersten Kaffee auf. Um Hungeräste zu vermeiden, hatte ich die vergangenen 5 Stunden Riegel um Riegel in mich reingedrückt. Mit dem Ergebnis, dass mir nur vom Denken an diese Dinger schlecht wurde und ich einen Magen hatte, der nach 4 Buffetgängen auf ner Hochzeit auch nicht voller gewesen sein dürfte. Den Pass quälte ich mich förmlich Kurve um Kurve nach oben. Am Verpflegungspunkt on the Top stieg ich auf verdaulichere Gels um. Bei der Abfahrt hatte ich das Vergnügen, ständig den nächsten Brecher im Blick zu haben, der quasi ohne Pause am Fuß der Abfahrt auf mich wartete. Der Col du Grand Saint Bernard.
Das besser unter Großer-Sankt-Bernhard-Pass (2469 m) bekannte Bergsträßchen wartete nicht nur mit 28 Kilometern bergauf und über 1400 Höhenmetern auf, sondern hatte noch ein paar Überraschungen in Petto. 1.) Das „Bergsträßchen“ entpuppte sich verkehrstechnisch als leider nur zweispurig ausgebaute Autobahn. Hier gaben sich überholende 40-Tonner, holländische Wohnwagengespanne und 180 km/h fahrende Motorrad-Helldriver quasi die Klinke in die Hand. Alle drei hatten wohl eins gemeinsam: Radfahrer waren ein Störfaktor und wurden gnadenlos mit maximal Halbmeterabständen bekämpft. 2.) Bergauffahren reichte der Natur offenbar nicht. In dem breiten Kerbtal gesellte sich noch Gegenwind im Berg hinzu. Mit meinen Kräften immer noch am Ende, klemmte ich mich hinter eine hübsche Italienerin und ließ deren ansehnliches Hinterteil äh Hinterrad die nächsten 15 Kilometer nicht aus den AugenJ Nachdem die Kohlenhydrate endlich wieder in den Muskeln angekommen waren, revangierte ich mich und setzte mich die letzten 13 Kilometer vor sie und zog sie im Wind den Berg hinauf. Oben am Gipfel gab‘s Shake Hand und wir fuhren wieder unserer Wege. Auf der schönen Passhöhe waren 4200 Höhenmeter und die Hälfte der Strecke geschafft. Meine Laune und Motivation war genau wie der Pass auf dem Höhepunkt.
Die 30km lange und breit ausgebaute Abfahrt auf italienischer Seite hätte mit über 80km gefahren werden können. Hätte, Hätte Fahrradkette……ich ritt sie mit 55 km/h runter und kam mir zeitweise wie ein Opa auf der Autobahn vor, der von so ziemlich alles und jedem überholt wurde.
Unten im Aosta-Tal angekommen hatte ich dann die magische Radmarathon-Marke von 200 Kilometern geknackt. Die folgenden 20 Kilometer ging es dauerhaft leicht bergauf wieder zurück in Richtung Mont Blanc, nur diesmal die andere Bergseite. An der Verpflegungsstation in La Salle gab es, wie es sich für Italien gehört, Pasta mit Tomatensoße. Die Kohlenhydrate waren auch dringend nötig, ging es doch von dort kurz danach auf weiteres pittoreskes Bergsträßchen, den Col du Petit Saint Bernard. Der Kleine-Sankt-Bernhard-Pass (2188 m) war tatsächlich ein „Kleiner“! Aber eher ein kleiner Drecksack als ein kleiner Pass. Weitere 1400 Höhenmeter oder 25 Kilometer stets gen Himmel fahren stand auf dem Programm. Da hinter dem Pass ein Zeitlimit wartete und die Tageszeit schon etwas fortgeschritten war, hieß es hier nicht trödeln. Ich musste nicht hetzen, so nicht, aber ruhiges Fahren war auch nicht drin. Also rauf auf den Pass. Unterwegs merkte ich so nebenbei, dass sich meine Oberhaut auf Armen und Schenkel bereits in Wohlgefallen aufgelöst hatte. Hatte ich mich heute Morgen eigentlich eingecremt??? Ups! Die fünfminütige Sonnencremeorgie, um ein Durchgaren meiner Körperteile zu verhindern, zehrte nochmal an meiner knappen Zeit. Oben angekommen hieß es ganze 2 Minuten anhalten, Taschen füllen, körpereigene Behälter leeren und ab die Post über die französische Grenze ins Tal. Mein Gaul erreichte nach halsbrechericher Abfahrt auch tatsächlich um 19:30 Uhr und somit 30 Minuten vor dem Limit die Zeitschranke. Puh!!!!
Jetzt hinderten mich nur noch ein Pass und der Schlussanstieg am Schlafen gehen. Den sechsten Pass, der Cormet de Roselend (1967 m), nahm ich nur noch in Trance wahr. Irgendwelche Synapsen im Kopf hatten den an allen Ecken und Enden rebellierenden Körper unter ihre Kontrolle gebracht und sagten einfach: Weiter treten, weiter treten, immer weiter den Berg rauf treten! Und das ganze 19 Kilometer und 1150 Höhenmeter lang. Die Sonne hatte mittlerweile auch ihr Tageswerk getan und verabschiedete sich peux a peux, sodass mich die Passhöhe im nächtlichen Gewand erwartete. Das machte natürlich die folgenden 20 Kilometer bergab nicht unbedingt leichter. Erst recht wenn „Fahrbahnreparatur“ für die hier verantwortlichen Stadtväter offenbar ein Fremdwort ist. Wenn der Frost den Teer aufreißt kann man das entstandene Loch reparieren……..man kann….man kann das Geld aber auch für Haute Couture und Haute Cuisine ausgeben. Letzteres ist vermutlich hier der Fall gewesen. Im Düsteren Schlagloch ausweichen stand daher auf dem Programm.
Unten lebend angekommen ließ der letzte Anstieg nicht lange auf sich warten. Man fuhr quasi mit Schwung vom Roselend direkt in den ersten Anstieg des Col des Saisies (1657 m). 16 Kilometer bergauf mit 850 Höhenmeter bildeten den Abschluss der spaßigen Tagesveranstaltung. Zielluft in der Nase gab es für mich hier kein Halten mehr. Jegliche Erschöpfung war dahin. Gas geben bis der Arzt oder das Ziel kommt war die Devise. Zum Glück war das Ziel flotter da. Mit Tempi jenseits der 12 km/h auf 10%-Rampen nach 315 Kilometer in den Beinen ließ ich noch den ein oder anderen hinter mir. Sogar die nette Italienerin vom Bernhard-Pass war mit dabei.
Um 23:50 Uhr erreichte ich in 18:49 Stunden als 371. von letztlich 413 Finishern das Ziel. Keine berauschende Platzierung, aber in Anbetracht der Umstände war ich überglücklich, das Ziel überhaupt erreicht zu haben. Ein Bart Van Damme aus Belgien hat den ganzen Parcours übrigens in 11:39 Stunden gemeistert und durfte sich dieses Jahr dafür zum Sieger krönen lassen.
Härtere Tagesrennen für Breitensportler als die Tour du Mont Blanc gibt es in den Alpen nicht! Und um ehrlich zu sein, muss ich auch nicht unbedingt mehr ein härteres finden. Dieses Rennen hat mich ein mein persönliches Limit gebracht, sodass ich für mich gesundheitsbedingt zukünftig etwas leichtere Rennen mit 4000-5000 Höhenmeter bevorzugen werde. In diesem Sinne: Bleib Dran!!!!!
Dirk Gütte, Erkelenz, den 19.07.2017